Natur und Kunst oder Jupiter und Saturn
Du waltest hoch am Tag und es blühet dein
Gesetz, du hältst die Waage, Saturnus Sohn!
Und teilst die Los’ und ruhest froh im
Ruhm der unsterblichen Herrscherkünste.
Doch in den Abgrund, sagen die Sänger sich,
Habst du den heilgen Vater, den eignen, einst
Verwiesen und es jammre drunten,
Da, wo die Wilden vor dir mit Recht sind,
Schuldlos der Gott der goldenen Zeit schon längst:
Einst mühelos, und größer wie du, wenn schon
Er kein Gebot aussprach und ihn der
Sterblichen keiner mit Namen nannte.
Herab denn! oder schäme des Danks dich nicht!
Und willst du bleiben, diene dem Älteren,
Und gönn es ihm, daß ihn vor Allen,
Götter und Menschen, der Sänger nenne!
Denn, wie aus dem Gewölke dein Blitz, so kömmt
Von ihm, was dein ist, siehe! so zeugt von ihm,
Was du gebeutst, und aus Saturnus
Frieden ist jegliche Macht erwachsen.
Und hab ich erst am Herzen Lebendiges
Gefühlt und dämmert, was du gestaltetest,
Und war in ihrer Wiege mir in
Wonne die wechselnde Zeit entschlummert:
Dann kenn ich dich, Kronion! dann hör ich dich,
Den weisen Meister, welcher, wie wir, ein Sohn
Der Zeit, Gesetze gibt und, was die
Heilige Dämmerung birgt, verkündet.
Friedrich Hölderlin
Also Jupiter hält die Waage! Hölderlin schreibt dieses Gedicht, während Jupiter in der Waage ist? Nein, als er das schreibt (1880/81), standen Jupiter und Saturn zwar in einer Konjunktion, aber wohl im Stier und kurz nach dem Quadrat zu Hölderlins eigenem Saturn im Krebs. Mit Hölderlin haben wir einen aus der vorhergehenden Pluto-im-Saturn Generation vor uns.
Der Satz lautet: „Da, wo die Wilden vor dir im Recht sind, …“ Was sagt er? Es geht um Jupiter, der den Vater Saturn in den Abgrund – nicht gestoßen, das ziemt sich nicht – „verwiesen“ hat.
Und dann bitter und fast keck: „… und es jammre drunten …“, der alte Vater lebt also noch, ist schon lange schuldlos. Was verhandelt Hölderlin hier, wie hält er selbst die Waage zwischen den Göttern? Was glaubt er, richtende Sprüche verlauten zu lassen? Um später dafür mit Wahnsinn geschlagen zu sein? Fast klingt es, als ginge es um Saturn/Chronos Wiederauferstehung? „heilige Dämmerung“?
Woher weiß Hölderlin, dass „Wilde“ gegenüber dem großen Jupiter, dem Gesetzgeber, an einem anderen Ort „vor dir mit Recht sind,“? Er nimmt hier ein Wissen und eine Humanität vorweg, die erst rund zweihundert Jahre später aus Ethnologie und Philosophie gewonnen wurden.
Die Wilden sind mit Recht: es geht nicht um ihren Zustand, oder ihre Befindlichkeit, sondern um das kategorische Recht auf Existenz des Wilden gegenüber der Harmonie des Gesetzes, dessen oberste Gestaltungskraft laut Hölderlin die Dichtung ist.
Warum aber „sind“ die Wilden mit Recht? Weil der „Staatsstreich“, der „Putsch“ im Olymp zwei Details enthält, die auf eine Tragödie ohne bisher befriedigenden Ausgang vermuten lassen: der Vater Saturn hatte seine Kinder gefressen – wenngleich er sie offensichtlich nicht töten konnte: – das macht man/frau nicht. Und der Sohn verstümmelt zusammen mit der Mutter den Vater am Geschlecht; auch das macht/man frau nicht. Aus diesem Grund, also wegen dem „ausgeglichenen“ Schuldenkonto zwischen Saturn und Jupiter, hat der Dichter die Möglichkeit, mit seinen eigenen Worten das Gleichgewicht zu verschieben, indem er sich erlaubt, darauf hinzuweisen, dass Jupiter alles, was er hat, von Saturn bekam. Und es gibt einen Bereich des Natürlichen, dem er nicht richtend vorsteht, auch wenn er die Gesetze macht, weil eben dieser wilde Bereich durch den Frevel am Vater – selbst wilde Tat und der alten Welt Schlüssel – zumindest bis zur Zeitenwende, Christi Geburt, keine Autorität zu entfalten vermochte. Da ist, seit Götter-Dynastien schon (denn Uranus (Osiris) wartete am Ur-Urgund ebenso auf die Wiederauferstehung und kündet von einem Familienkarma der geschlechtlichen Verstümmelung), kein Segen von Vater zu Sohn gegangen, daher darf das Wilde sich erdreisten mit Recht zu sein. Doch nun geht der Segen vom Sohn zum Vater. Geht das?
Bei so viel Vater-Sohn Geschichte werden wir auf die Sohn-Vater Geschichte von Jesus Christus aufmerksam, die in diesem Gedicht nicht genannt ist. „Aus Saturns Frieden ist jegliche Macht gewachsen“. Können wir das astrologisch nachvollziehen? Was ist daran christlich? Es ist ein Geheimnis um den Wachstumszyklus von Zeus und Chronos, den König-Davids-Stern, Salomons Siegel. Es gibt da eine Vertauschung der Macht, ein Aufweichen des Riegels der Zeiten, von denen dieses Gedicht spricht: daher ist es christlich dem Geist nach.
Es ist ein tiefer, damals auch von Schelling, Hegel und Schiller geführter Diskurs nicht nur über „Natur und Kunst“ – Hölderlin geht immer weiter ins kollektive Individualbewußtsein, als jede mögliche Interpretation – indem er zum Schluß erkennt: „Und war in ihrer Wiege mir in / Wonne die wechselnde Zeit entschlummert …“, dass nur ein Zustand im Sinne des von ehemals Saturn regierten Goldenen Zeitalters, ein zeitloser Zustand also (den er ausspricht, indem er ihn benennt, weil die w-w-w-Alliteration „war“ – „Wiege“ – „Wonne“ hypnotisch ist. Mit Hölderlins Gedichten folgt frau/man der Spur der Gedanken.